Delphine de Vigan: „Loyalitäten“ – Ein psychologischer Roman als Leseempfehlung für Lehrkräfte
Es gibt viele Bücher, die für Abiturient:innen als Pflichtlektüre gelten, doch auch Lehrkräfte sollten bestimmte Werke unbedingt lesen. „Loyalitäten“, der 2018 erschienene Roman der französischen Autorin und Filmregisseurin Delphine de Vigan, gehört für mich zweifellos dazu. Der so kurze wie dichte Text ist ein berührendes Plädoyer für Intuition, Empathie und den Mut, genauer hinzusehen.
Zum Inhalt des Romans „Loyalitäten“
„Loyalitäten“ erzählt die Geschichte des zwölfjährigen Théo, der in Paris lebt und äußerlich ein unauffälliger, guter Schüler ist. Doch seine aufmerksame und empathische Klassenlehrerin Hélène spürt eine Veränderung, die sie anfangs selbst nicht greifen kann. Théo wirkt plötzlich erschöpft, zerbrechlich und verloren. Der Grund: Er trinkt heimlich und exzessiv harten Alkohol, um seine psychische Belastung und den Schmerz zu betäuben, der von seiner schwierigen familiären Situation verursacht wird.
Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Hélène möchte das Geheimnis hinter Théos Verhalten ergründen, findet jedoch keine Antwort. Bei den anderen Lehrkräften ihres Kollegiums stößt sie zudem auf Unverständnis. Ihre Besorgnis treibt sie schließlich dazu, weit über ihre beruflichen Pflichten hinauszugehen.
Gleichzeitig plant Théo, sein Leben durch eine Überdosis Alkohol zu beenden, um der Last seines Familienlebens zu entkommen. Seit er fünf Jahre alt ist, pendelt er zwischen seinem depressiven Vater und seiner verbitterten Mutter, ohne dass er jemals Unterstützung erfährt. Inmitten dieser emotionalen Zerrissenheit fühlt er sich alleine, da er einerseits seine Eltern nicht verraten möchte und andererseits nie gelernt hat, sich mitzuteilen oder um Hilfe zu bitten.
Hélène und Mathis – Verbündete im Kampf um Théos Rettung
Der Roman erzählt die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Neben Hélène möchte auch Théos Freund Mathis ihm helfen, weiß aber selbst nicht, wie. Mathis’ Mutter Cécile ist zudem misstrauisch gegenüber Théo. Sie möchte ihren Sohn vor dem vermeintlich schlechten Einfluss schützen, was wiederum auf traumatische Erlebnisse in ihrer eigenen Kindheit zurückzuführen ist. Auch Hélènes Sensibilität rührt aus ihrer Kindheit her.
Das Aufdecken der jeweiligen Handlungsmotive inmitten des schnell voranschreitenden Geschehens fesselt beim Lesen. Es zeigt auf, wie tief Loyalitäten gehen und welche zerstörerischen Folgen sie haben können.
Loyalitäten – Ein Plädoyer fürs Hinsehen
Delphine de Vigan gelingt es virtuos, mit wenigen, aber eindringlichen Worten ein intensives Psychogramm ihrer Protagonist*innen zu zeichnen. Die Charaktere agieren alle auf ihre Weise loyal – sei es gegenüber ihren Familien, ihren Freund*innen oder ihrer Institution. Der Roman verdeutlicht jedoch, dass es gerade der Bruch mit diesen vermeintlichen Verpflichtungen ist, der für alle den Wendepunkt darstellt. Am Ende bleibt den Leser*innen ein hoffnungsvolles offenes Ende und ein Weckruf: Sieh hin – und habe Mut, deine Mitmenschen anzusprechen.
Delphine de Vigan: Loyalitäten. Roman. Dumont 2018, 174 Seiten (Taschenbuch: 10 Euro)