Die Coronakrise als Chance für einen Paradigmenwechsel an Schulen
Corona hat das Bewusstsein für psychische Probleme und mentale Gesundheit gesamtgesellschaftlich geschärft. So auch an Schulen. Lehrkräfte sind in erster Linie Pädagog*innen, also Personen, die Kinder und Jugendliche professionell auf ihrem eigenen Weg begleiten. Doch insbesondere im Gymnasialbereich geriet dieser ganzheitliche Ansatz leicht aus dem Blick – bis die Pandemie das Thema mentale Gesundheit ins Zentrum rückte.
Die Folgen der Corona-Pandemie für Lehrkräfte und Schüler*innen
Es ist große Pause, wir befinden uns in einem Lehrerzimmer an einer beliebigen Schule irgendwo in Deutschland. Die Chance ist hoch, dass wir dort folgende Gesprächsfetzen aufschnappen können: „Eine Oberstufen-Klausur abzugeben mit 350 Wörtern… Das wäre noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen!“ – „Die Fehlzeiten von Max sind exorbitant hoch…“ – „Die Hälfte der 7a kann nicht laut vorlesen!“ – „Maria aus der 5b ist immer so still…“.
Gesprächsfetzen, die noch vor Kurzem lediglich als Klage über die Bildungsmisere gedeutet worden wären – nun weisen sie eher darauf hin, dass Lehrkräfte die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen aufmerksam im Blick haben. Sie wissen, dass die Corona-Pandemie, die seit 2020 so gravierend die Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt hat, bis heute in die Körper und in die Psychen gerade der Jüngsten der Gesellschaft eingeschrieben ist.
Denn die Folgen von Corona sind für Lehrkräfte weiterhin spürbar: So nennt das Deutsche Schulportal der Robert Bosch Stiftung noch im Dezember 2023 Lernrückstände und psychische Belastungen als bleibende Herausforderungen der Pandemie.1 Und das, obwohl milliardenschwere Bundes- und Ländermaßnahmen gerade auslaufen oder bereits ausgelaufen sind. Die Schulen sind also bei der Frage des Umgangs mit diesen Herausforderungen weitgehend sich selbst überlassen.
Paradigmenwechsel: Lehrkräfte als ganzheitliche Begleiter*innen
Doch es gibt Hoffnung, zumindest was die psychischen Belastungen betrifft. Hoffnung, die jenseits finanzieller Ressourcen liegt. Sie liegt in den Lehrkräften selbst: Früher hätten die meisten Pädagog*innen in sogenannten „schwachen Klassen“ vor allem ihre Aufgabe darin gesehen, die Lernlücken möglichst zu beheben, den Lehrplan durchzupauken und Lernrückmeldungen primär über Noten zu geben. Ein „schwacher Schüler“ hätte durch eine mündliche 5 oder eine schriftliche 6 erfahren, wie es um seine schulische Leistung steht.
Seit Corona jedoch sehen immer mehr Lehrkräfte ihre Schüler*innen (wieder) ganzheitlicher; darauf deuten nicht zuletzt „Bildungsinfluencer“ wie netzlehrer (Bob Blume) oder liniert.kariert (Saskia Niechzial) hin, die sich unter anderem auf Instagram und in Podcasts für eine neue Bildungspolitik einsetzen – und dabei, nicht erst seit Corona, selbst mit gutem Beispiel vorangehen.
Auch unbemerkt von Social Media ändert sich vieles: Um Kompetenzen zu bündeln, finden sich an immer mehr Schulen multiprofessionelle Teams zusammen. Diese bestehen beispielsweise aus Sucht- und Gewaltprävention, Verbindungslehrkräften, Schulseelsorge und Schulsozialarbeit. Diese Teams koordinieren Fälle und entscheiden, ob eine Weiterleitung an die Schulpsychologie oder lokale Beratungsstellen angezeigt ist. Gleichzeitig vergewissern sich die Lehrkräfte und Sozialpädagog*innen im Gespräch miteinander ihres professionellen Vorgehens und entlasten sich damit selbst.
Besondere Unterstützung für vulnerable Gruppen
An mehreren Schulen gibt es seit einigen Jahren zudem AGs für queere Jugendliche, eine besonders vulnerable Gruppe. Denn verschiedene Studien zeigen ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko, insbesondere in jungen Jahren.2
Darüber hinaus erfahren themenrelevante Vorträge und Fortbildungsangebote wie von tomoni, aber auch von den Kultusministerien, Psychotherapeutenkammern und weiteren Trägern breiten Zulauf. Die Lehrkräfte, die sich hier Wissen aneignen, wirken nicht selten als Multiplikator*innen an ihren Schulen.
Warum wir einen neuen Umgang mit psychischen Erkrankungen brauchen
Bis zu 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen leiden einmal in ihrem Heranwachsen an einer psychischen Erkrankung wie z. B. Depression, Angst- und Essstörung3 oder haben – deutlich seltener – eine Entwicklungsstörung wie z. B. eine Autismus-Spektrum-Störung. Dies wird häufig sowohl von den Betroffenen als auch von den Eltern als sehr belastend empfunden, zumal diese Erkrankungen mit Angst, Scham und Schuldgefühlen einhergehen können und die Prognosen oft ungewiss sind.
Doch die gute Nachricht ist, dass psychische Erkrankungen, vor allem, wenn sie früh erkannt werden, in der Regel gut behandelbar sind. Schule kann im Falle einer psychischen Erkrankung eine helfende Rolle einnehmen: Etwa durch Gespräche mit betroffenen Schüler*innen und im Nachgang mit den Eltern. Außerdem durch Erleichterungen wie Nachteilsausgleich, Notenschutz oder Wiedereingliederungsmaßnahmen nach Psychiatrieaufenthalt und auch durch entstigmatisierende Aufklärungsarbeit für alle Mitglieder der Schulgemeinde. Zudem kann Schule auch als Schutzraum, als Taktgeber, als Stück Normalität fungieren.
Ressourcen und Unterstützung für psychosoziale Arbeit
Verschwiegen werden soll an dieser Stelle nicht, dass eine gute psychosoziale Schularbeit natürlich Ressourcen benötigt: Einen ansprechenden Raum, Deputatsstunden, flexible Möglichkeiten zur Freistellung und zur Kooperation mit Kolleg*innen. Ferner bedarf es Fortbildungsangeboten, einer ausreichenden Anzahl an Sozialpädagog*innen sowie Schulpsycholog*innen.
Zur Entlastung sei gesagt, dass die meisten Lehrkräfte oft nur einen mutigen Moment benötigen, um die Schüler:innen auf ihr Wohlbefinden anzusprechen. Die Arbeit danach kann dann gegebenenfalls den Profis überlassen werden. Denn auch das Erkennen der eigenen Grenzen gehört zum professionellen Handeln mit dazu.
Fazit: Ein Paradigmenwechsel für eine ganzheitliche Begleitung
Je mehr Lehrkräfte bereit sind, über den Unterricht hinaus auf die psychische Gesundheit ihrer Schüler:innen einzugehen, desto wahrscheinlicher wird der angestrebte Paradigmenwechsel. Dies könnte dazu führen, dass psychische Erkrankungen frühzeitig erkannt und behandelt werden können – ein bedeutender Schritt, nicht nur für die betroffenen Schüler*innen, sondern für die Gesellschaft insgesamt.
Zurück im Lehrerzimmer: Hat die Klassenlehrerin Max gefragt, warum er so oft fehlt? Hat jemand Maria gefragt, warum sie so still ist? Ein erstes Gespräch könnte zeigen, dass hinter Schulabstinenz oder Zurückgezogenheit manchmal einfache Erklärungen wie die erste Liebe stecken – und manchmal eben tiefer liegende Herausforderungen. Die Hauptsache ist, dass Schüler*innen wissen, dass sie jemanden haben, der ihnen zuhört. Für Lehrkräfte gilt daher: „Done is better than perfect!“
Literaturverzeichnis
1Kuhn, Annette: Corona – Welche Probleme an Schulen geblieben sind. 15. Februar 2023, aktualisiert am 19. Dezember 2023. Veröffentlicht auf der Website "Schulportal der Robert Bosch Stiftung".
URL: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/news-blog-corona-schule-neues-schuljahr/
(zuletzt abgerufen am: 16.11.2024)
2 Pfister, Andreas: Suizidprävention für LGBTQ+-Jugendliche: Notwendigkeit, Modell und Zugänge. 11. Januar 2024. Erschienen in: Prävention und Gesundheitsförderung.
URL: https://www.springermedizin.de/suizid/suizid/suizidpraevention-fuer-lgbtq-jugendliche-notwendigkeit-modell-un/26618180
(zuletzt abgerufen am: 16.11.2024).
3 Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK): Fast 20 Prozent erkranken an einer psychischen Störung. BPtK-Faktenblatt „Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen“. 02. Oktober 2020.
URL: https://www.bptk.de/pressemitteilungen/fast-20-prozent-erkranken-an-einer-psychischen-stoerung/
(zuletzt abgerufen am: 16.11.2024).