Kinder mit Förderbedarf im Regelschulbetrieb – Warum Offenheit so wichtig ist

29.10.2025 von Max M.

Alle Jahre wieder kommen die neuen Fünftklässler an unsere Schule, ein mittelgroßes Gymnasium in einer mitteldeutschen Kleinstadt. Wir haben meist 4-6 Klassen, und die tüftelige Aufgabe unserer Unterstufenkoordination besteht darin, diese auf Basis der übermittelten Grundschuldaten möglichst gerecht einzuteilen.

So wird auf das Geschlechterverhältnis geachtet, darauf, ob Kinder mit Haupt- oder Realschulempfehlung gleichmäßig verteilt sind, ob die Freundschaftswünsche bestmöglich berücksichtigt wurden, auf die Wohnortnähe und einige weitere Faktoren mehr.

Wenn ein Kind mit Förderbedarf angemeldet wird und das auch offen benannt wird, was zum Glück immer häufiger geschieht, werden wir künftigen Klassenlehrkräfte vorher gefragt, ob wir uns ein Kind mit diesem oder jenem Förderbedarf zutrauen. In der Regel betrifft dies ein bis drei Schüler*innen pro Schuljahr, die auf die verschiedenen Klassen aufgeteilt werden. Wir beschulen Kinder, die auf dem Autismus-Spektrum sind, die Reizverarbeitungsstörungen haben, mit schweren Formen von ADHS und viele andere mehr.

Zu diesem Zweck haben wir auch eine ebenfalls gut informierte Inklusionsberaterin, also eine Kollegin, die sich rund um das Thema Inklusion fortbildet, uns kompetent berät, Kontakte zum Beratungs- und Förderzentrum pflegt, bei „runden Tischen“ dabei ist usw. Im Lehrerzimmer haben wir einen eigenen Tisch, an dem unsere I-Kräfte sitzen und sich austauschen können, da wir mittlerweile mehr als eine Handvoll „Ermöglicher“ haben.

Je früher wir von Förderbedarfen künftiger Fünftklässler wissen, desto besser können wir das Klassenteam danach auswählen, können sich die Kolleg*innen darüber informieren und sich darauf vorbereiten, so gut dies eben im Vorfeld geht. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer.

 

Von U-Booten und Ü-Eiern im Unterricht

Manchmal werden wir als Schulgemeinschaft von den Eltern nicht rechtzeitig informiert, da diese Angst haben, dass wir ihr Kind in eine Schublade stecken, aus der es nicht mehr herauskommt. So nehmen sie uns aber die Chance, uns bereits im Vorfeld FÜR ihr Kind zu entscheiden und uns gut auf den für alle anstrengenden Übergang des Kindes vorzubereiten.

Ein Beispiel aus der Praxis

Eine Schülerin hatte bereits in der Grundschule eine Integrationskraft (I-Kraft), von der offenbar alle wussten, nur unsere Schule nicht. Die Grundschule hatte die Akte des Kindes nämlich auf Wunsch der Eltern „gereinigt“,; zudem kam das Mädchen sowohl zum Kennenlerntag als auch am ersten Schultag allein. Das Kind wirkte fahrig, nervös, aber so wirken viele Kinder am Anfang des fünften Schuljahres.

Die I-Kraft kam am ersten Tag nicht, da die Eltern nicht wollten, dass die Schülerin stigmatisiert wird. Dieser Wunsch ist verständlich und menschlich absolut nachvollziehbar. Für die Schülerin war es wohl umso härter, dass am zweiten Tag die ihr bekannte I-Kraft plötzlich vor der Tür stand – und die Nebenfachlehrerin, die den Tag eröffnete, ebenso wie die Mitschüler*innen mit dieser Situation völlig überforderte. So musste die Schülerin erst umgesetzt werden, auch ein zusätzlicher Tisch und ein zusätzlicher Stuhl für die I-Kraft mussten erst organisiert werden.

Ab diesem Moment zeigte auch die Schülerin, warum sie eine Schulbegleitung brauchte: Sie spuckte, schrie im Unterricht, versuchte, sich und die I-Kraft zu verletzen und ging – sprichwörtlich – über Tische und Bänke. So zeigte sie uns das Vollbild dessen, was man sozial-emotionale Entwicklungsstörung nennt; ein Thema, das bei uns bislang noch nicht vorgekommen war.

Solche Kinder nennt man inoffiziell „U-Boot“ oder „Ü-Ei“, da man ihr Problem zunächst nicht sehen kann und auch nicht weiß, welche Überraschungen sie bergen.

Statt echte Teilhabe im Sinne der Inklusion zu ermöglichen, belastete die Situation alle in den nächsten Wochen sehr, Lehrkräfte wie Mitschüler*innen; der Versuch, durch eine neue I-Kraft einen Neustart zu ermöglichen, scheiterte.

Warum hatten die Eltern das getan? Die Eltern wollten, bei aller Unkontrollierbarkeit ihres Kindes, wohl selbst die Kontrolle behalten, und hatten den Wunsch, allein bestimmen zu können, wie die neue Schule ihr „besonderes“ Kind aufnimmt. Erst scheibchenweise und immer nur auf Nachfrage öffneten sich die Eltern, erlaubten schließlich sogar Gespräche mit dem behandelnden Psychotherapeuten. Allmählich begann auch das Mädchen, sich zu integrieren dank einer AG, in der es sich wohlfühlte. Der Lehrerin der AG konnte es sich zudem anvertrauen – und fasste so nach und nach Zutrauen zu den Erwachsenen und zu ein paar Mitschüler*innen.

 

Wenn sich alle reinhängen und es doch nicht klappt

Die Herausforderung für Erwachsene wie Kinder war, dass es in der Klasse bereits einen bekannten Fall eines Jungen mit auditiven Wahrnehmungsproblemen gab. Dieses Kind wurde tatsächlich inklusiv beschult und sollte eigentlich eine Förderschule besuchen, kam auf Wunsch der Familie jedoch an unsere Schule, da bereits ältere Geschwister bei uns lernten und die Eltern sich erhofften, dass das jüngste Kind ebenso gut bei uns aufgehoben war. Es hatte keine I-Kraft, sondern wurde binnendifferenziert mit passgenau zugeschnittenen Aufgaben beschult; ein „runder Tisch“, bestehend u.a. aus einer Förderschullehrerin, den Eltern, unserer Inklusionskraft, einem Schulleitungsmitglied und mir, flankierte den Schulbesuch.

Obwohl hier alle gut vorbereitet starteten, erwies sich die Schule für diesen Jungen als nicht unterstützend. Er wechselte zum nächsten Schuljahr an eine Förderschule. Ich stellte mir bange Fragen: Konnte ich diesem Jungen nicht gerecht werden, da seine Mitschülerin sehr viel Raum brauchte und es häufig herausfordernd war eine ruhige, konzentrierte Arbeitsatmosphäre herzustellen? Denn wir Lehrkräfte mussten gleich zwei verschiedenen Förderbedarfen gerecht werden – in einer Klasse mit 28 weiteren Kindern; viele von ihnen mit eigenen Päckchen.

Auch das Mädchen verließ (gegen den Wunsch der Lehrkräfte und der Schülerin selbst) unsere Schule nach nur einem Schuljahr, um auf eine Förderschule zu gehen. Dies empfand ich als besonders bittere Niederlage, da wir ein ganzes Schuljahr lang als Team sehr empathisch versucht hatten, dieses Kind besonders zu unterstützen. Doch den Eltern war dies nicht genug. Wir erfuhren von der Abmeldung erst in den Sommerferien, sodass wir keinerlei Elterngespräche mehr führen konnten.

Mich macht beides traurig, da ich ein absoluter Fürsprecher von Inklusion bin. Allerdings sehe und fordere ich auch die Notwendigkeit, dem steigenden Bedarf durch entsprechende Investitionen in Organisationsformen gerecht zu werden: Das beginnt bei einer Entlastungsstunde für Klassenleitungen mit I-Kindern, geht über Fortbildungen und endet nicht bei zusätzlichem Personal.

 

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

Ich möchte diesen Beitrag beenden mit dem Appell an alle Eltern, die Kinder mit besonderen Bedarfen haben, ob diagnostiziert oder nicht: Informieren Sie die potenziell aufnehmende (Regel-)Schule rechtzeitig. Denn nur so kann die Schule frühzeitig und angemessen reagieren. Sie kann prüfen, ob sie Personal und Ressourcen hat und wie sie diese bestmöglich auf Ihr Kind abstimmen kann.

Und: Haben Sie Verständnis, wenn eine Schule im Vorfeld sagt, dass sie Ihr Kind nicht aufnehmen kann. Dies ist in vielerlei Hinsicht nicht gut und kann als diskriminierend empfunden werden, aber eine ehrliche Selbsteinschätzung zu akzeptieren ist in jedem Fall besser als zu riskieren, dass Ihr Kind dort untergeht und am Ende die Schule frühzeitig verlässt.