Warum wir mit Jugendlichen über Suizidalität reden sollten

15.10.2025 von Martin Schäuble

Es gibt Themen, die uns beinahe sprachlos werden lassen. Suizidalität gehört dazu. Oft aus Sorge, etwas Falsches zu sagen oder junge Menschen zu überfordern. Aber aus meiner Erfahrung kann ich sagen: Sprechen hilft, Schweigen nicht. Wenn wir mit Jugendlichen offen über psychische Krisen und Suizidgedanken reden, kann genau das entlasten und schützen. Aber auf das „Wie“ kommt es an.

 

Wenn drei Jugendliche den Raum verlassen

Es war während einer Lesung an einer Schule. Ich las aus meinem Buch „Alle Farben grau", der Geschichte von Paul, der sich mit 16 Jahren das Leben nahm. Drei Jugendliche verließen während der Lesung den Raum. Nicht aus Desinteresse. Sondern weil die Geschichte ihnen zu nah ging.

Eine Sozialarbeiterin folgte ihnen. Sie fragte nach, suchte das Gespräch. Und kam mit allen dreien zurück. Mein Gedanke in diesem Moment: Ohne diese Lesung hätten diese vertraulichen Gespräche vielleicht nie stattgefunden. Das ist ein Grund, warum ich über Suizidalität mit Jugendlichen spreche. Auch wenn es unbequem ist, auch wenn es Mut braucht, auch wenn viele Schulen lieber andere Bücher von mir hören wollen.

 

Das Schweigen wiegt schwerer als das Sprechen

Ich verstehe die Sorgen. Als Autor höre ich oft von Lehrkräften, dass die Eltern Bedenken äußerten, wenn im Unterricht das Thema Suizidalität angesprochen werden soll. Auch fragen sich Lehrkräfte und Eltern: Überfordert das Thema die Kinder? Löst das darüber Sprechen etwa suizidale Gedanken aus? Macht das möglicherweise vorhandene suizidale Gedanken nur schlimmer? Die klare Antwort aus der Wissenschaft lautet: Nein. Das Gegenteil ist der Fall.1

Dies kann ich nach den Erfahrungen meiner ersten Lesungen von „Alle Farben grau” anekdotisch nur bestätigen: Suizidalität wird nicht leichter, nur wenn man dazu schweigt. Im Gegenteil: Das Tabuthema aus der Grauzone zu holen, hilft. Immer. Die Fragen, die mir Jugendliche nach den Lesungen stellen, zeigen mir jedes Mal: Das Thema ist riesig. Viele haben Anknüpfungspunkte, eigene Erfahrungen aus Familie und Freundschaften. Sie wollen darüber sprechen. Und sie brauchen Räume dafür.

Doch wie spricht man richtig über Suizidalität? Wissenschaftlich fundierte Suizidprävention gibt darauf klare Antworten.

 

Werther-Effekt und Papageno-Effekt: Wie Geschichten wirken

Zwei wichtige Begriffe spielen dabei eine zentrale Rolle: der Werther-Effekt und der Papageno-Effekt.2

Der Werther-Effekt, benannt nach Goethes „Die Leiden des jungen Werthers", beschreibt, wie bestimmte Formen der Kommunikation über Suizide zu Nachahmungen führen können. In Goethes Roman nimmt sich der junge Werther aus unerfüllter Liebe das Leben. Nach der Veröffentlichung 1774 wurden einzelne Nachahmungssuizide dokumentiert, bei denen junge Menschen die „Werther-Tracht" trugen oder das Buch bei sich hatten. Das Buch wurde daraufhin in mehreren Städten verboten. Ob es tatsächlich eine "Suizidwelle" gab, wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert.

Wissenschaftlich erwiesen ist aber, dass es Nachahmungeffekte geben kann, wenn über Suizid gesprochen wird und dabei Suizide romantisiert, Methoden und Ort detailliert beschrieben oder Personen, die Suizid begangen haben, heroisiert werden.

Doch es gibt auch das Gegenteil: den Papageno-Effekt, benannt nach der Figur aus Mozarts „Zauberflöte". In der Oper steht Papageno kurz davor, sich das Leben zu nehmen, weil er seine große Liebe verloren glaubt. Doch drei Knaben erinnern ihn daran, dass es andere Lösungen gibt. Er entscheidet sich für das Leben und findet am Ende sein Glück.

Der Papageno-Effekt zeigt: Wenn wir verantwortungsvoll über psychische Krisen sprechen, über Hilfsmöglichkeiten informieren und Geschichten des Überlebens erzählen, hat das eine schützende Wirkung.

Genau davon lasse ich mich leiten, im Buch wie in Lesungen. Suizide stehen häufig im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen, oft sind es Depressionen. So auch bei Paul, der an einer schweren Depression litt. Wie Paul sich das Leben genommen hat, wird nie benannt. Im Buch sind an dieser Stelle zwei schwarze Seiten. Und genauso wichtig: Ich spreche über Hilfsangebote. Ich benenne klar, wie andere Betroffene im Buch und in der wahren Geschichte überlebten. Denn auch darum geht es: Im Positiven zu enden, andere Wege aufzuzeigen.

 

Was es braucht: Ein Team und einen Plan

Ich gebe es ehrlich zu: Eine Lesung über „Alle Farben grau" kann nicht einfach so stattfinden. Sie kann nicht überraschend in einer vollen Aula geschehen, wo die Jugendlichen nur von "einer Autorenlesung" wussten und keine Zeit für eine Vorbereitung war, so wie es bei vielen anderen meiner Lesungen Alltag ist.

Lesungen zum Buch „Alle Farben grau”, die gelingen, haben etwas gemeinsam: Ein ganzes Team arbeitet daran mit. Bei der Lesung, an die ich am Anfang erinnert habe, hatte die Schulseelsorgerin alles organisiert. Die Jugendlichen hatten das Buch im Unterricht gelesen und vorab über psychische Gesundheit und Suizidalität gesprochen. Sie hatten überlegt, was sie mich fragen wollten und vor allem, wie es ihnen bei der Lesung gut gehen würde.

Während meiner Buchvorstellung war die Sozialarbeiterin im Raum. Wer den Raum verlassen wollte, war nicht allein. Nach der Veranstaltung sprachen die Lehrkräfte in kleineren Gruppen mit ihren Schüler*innen. Und danach tauschten die Lehrkräfte und ich uns noch einmal aus. Das war Aufwand, für alle. Doch die positiven Rückmeldungen zeigten: Es hat sich gelohnt.

 

Es muss nicht perfekt sein – es sollte nur stattfinden

Ich weiß: Nicht jede Schule hat Schulpsycholog*innen oder Sozialarbeiter*innen vor Ort. Oft sind diese für viel zu viele Schüler*innen zuständig, manchmal sogar an mehreren Schulen gleichzeitig.

Als Autor und nach vielen Gesprächen mit Jugendlichen ist für mich klar: Es braucht Raum für das Gespräch über Suizidalität und dieses muss nicht perfekt sein. Es sollte nur stattfinden.

Für Lehrkräfte:

Traue dich, das Thema anzugehen, es macht einen Unterschied! Dies haben mir Lehrkräfte mitgegeben, die sich auf den Weg gemacht und Suizidalität zum Thema im Unterricht (Deutsch, Ethik, Religion) gemacht haben. Dazu braucht es einen Gesprächsanlass; das kann auch Goethes „Werthers Leiden”. „Tote Mädchen lügen nicht” von Jay Asher, oder Frank Wedekings „Frühlingserwachen” sein.

Oder du liest „Alle Farben grau” mit deiner Klasse. Das vom Verlag zur Verfügung gestellte Unterrichtsmaterial inkl. Elternbrief, entwickelt von einer Pädagogin und einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, hat sich bewährt. Lehrkräfte, die das Buch mit ihrer Klasse gelesen und sich im Anschluss bei mir gemeldet haben, haben sich beispielsweise jemanden vom Fach eingeladen, etwa Therapeut*innen, Psycholog*innen oder Psychiater*innen, um mit den Schüler*innen über das Gelesene zu sprechen.

Eine Lehrkraft erzählte mir, dass normalerweise maximal fünf Schüler*innen die Lektüre tatsächlich komplett lesen. Bei „Alle Farben grau” sagte sie, sei es anders gewesen. Sie glaubt, dass tatsächlich alle das Buch bis zur letzten Seite gelesen hätten.

Für Eltern:

Traue deinem Kind mehr zu, als du vielleicht denkst: Jugendliche können mit schweren Themen umgehen, besonders wenn sie gut begleitet werden. Nutze „Alle Farben grau" oder auch andere Bücher oder Filme, um ins Gespräch zu kommen über Gefühle, Ängste, psychische Gesundheit und Suizidalität.

Bereite dein Kind vor: Besprecht, was es tun kann, wenn es selber solche Gedanken hat oder sich um Freund*innen Sorgen macht. Welche Sorgen kann es alleine tragen? Und wann sollte es sich unbedingt Hilfe bei Erwachsenen suchen?

Kenne Hilfsangebote: Habe eine Liste parat mit der Nummer gegen Kummer, U25 oder Krisenchat (s. weiter unten). Diese niedrigschwelligen Anlaufstellen sollte dein Kind kennen.

Und sei ansprechbar: Das Wichtigste ist, dass dein Kind weiß: Ich kann mit meinen Eltern reden, auch über schwere Dinge.

 

Gemeinsam gegen das Tabu

Die vielen Reaktionen, die mich seit Erscheinen des Buches erreichen, auch von Betroffenen, zeigen mir, wie wichtig es ist, miteinander zu dem Thema ins Gespräch zu kommen, Lehrkräfte mit Schüler*innen, Eltern mit ihren Kindern; dass wir uns das gegenseitig zumuten, um füreinander da zu sein.

Besonders berührend: Jugendliche haben Projekte zum Buch entwickelt: eine Stuttgarter Schulklasse hat einen Podcast aufgenommen, in dem sie über die Geschichte sprechen, eine Schülerin hat dieses Video veröffentlicht. Das zeigt: Wenn wir Jugendlichen den Raum geben, setzen sie sich mit dem Thema auseinander, auf ihre eigene, kraftvolle Weise und davon können wir alle lernen.

Suizidalität bei Jugendlichen ist kein Randthema. Es betrifft mehr Familien, mehr Klassenräume, mehr Freundeskreise, als wir wahrhaben wollen. Deshalb braucht es uns alle: Lehrkräfte, Eltern, Sozialarbeiter*innen, Autor*innen, Vereine.

Zusammen geht es darum, mit Jugendlichen über Suizidalität zu sprechen.

Ich bin überzeugt: Jedes Gespräch zählt.

 

Ressourcen und Hilfsangebote

Für Schulen und Lehrkräfte:

Unterrichtsmaterial zu „Alle Farben grau" (kostenlos, inkl. Elternbrief)

Kostenfreie Fortbildungen für an Schule Tätige

Kostenfreie Fortbildungen für Eltern und Verwandte

Für Jugendliche:

Telefonische Hilfsangebote

  • Nummer gegen Kummer: 116 111 (kostenfrei, anonym, montags bis samstags von 14:00–20:00 Uhr)
  • Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (rund um die Uhr, kostenfrei)

Online-Beratung

Ärzt*innen- und Psychotherapeut*innensuche

Über den Patientenservice der Kassenärztlichen Bundesvereinigung findest du die Kontaktdaten aller niedergelassenen Ärzt*innen und Therapeut*innen in deiner Nähe.

 

Literaturverzeichnis

1 Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2023): Nationales Suizidpräventionsprogramm – Abschlussbericht.
URL: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Praevention/abschlussbericht/suizidpraevention_abschlussbericht_bf.pdf
[Zuletzt abgerufen am: 12.10.2025].

2 Niederkrotenthaler, T., Tran, U. S., Baginski, H. et al. (2019): Medien und Suizid: der aktuelle Forschungsstand zum Werther- und Papageno-Effekt – eine Übersichtsarbeit. In: Psychotherapie Forum, 23, 121–133.
URL: https://link.springer.com/article/10.1007/s00729-019-00125-1
[Zuletzt abgerufen am: 12.10.2025].